Geist wider Ungeist

Projekt: Anthologie 

Deutsche Gedichte aus drei Jahrhunderten wider Judenhass und Antisemitismus 

Einzelne Texte sende ich auf Anfrage gerne zu (als Email-Datei). Über Hinweise auf wenig bekannte Lyrik zum Thema freue ich mich.  
Aus Copyright-Gründen muss auf die Internetveröffentlichung der meisten Gedichte verzichtet werden.


Gedicht des Monats

Heinrich Heine (1797-1856)

Der tausendjährige Schmerz

Brich aus in lauten Klagen,
Du düstres Märtyrerlied,
Das ich so lang’ getragen
Im flammenstillen Gemüt!

Es dringt in alle Ohren,
Und durch die Ohren ins Herz;
Ich habe gewaltig beschworen
Den tausendjährigen Schmerz.

Es weinen die Großen und Kleinen,
Sogar die kalten Herrn,
Die Frauen und Blumen weinen,
Es weinen am Himmel die Stern’.

Und alle die Tränen fließen
Nach Süden im stillen Verein,
Sie fließen und ergießen
Sich all’ in den Jordan hinein.

Friedrich Hebbel (1813-1863)

Das Korn auf dem Dache

            Der Frühling ist gekommen,
                Doch war der Winter scharf
            Und hat mit weggenommen
                Den nöthigsten Bedarf;
            Die Pflüge bleiben stehen,
                Es fehlt ja an der Saat,
            Und muß auch was geschehen,
                So weiß doch Keiner Rath.

            Da hinkt ein alter Jude
                In weißem Bart durch's Dorf,
            Der kroch aus seiner Bude
                Um etwas Sprock und Torf.
            Er weilt bei jedem Schober
                Und späht und bückt sich oft,
            Und voll ist ihm der Kober,
                Bevor er's noch gehofft.

            Die Arbeit ward ihm sauer,
                Nun will er denn nach Haus,
            Da tritt ein müß'ger Bauer
                Aus seiner Thür heraus.
            Der ruft: Du hast dir Feu'rung
                Gesammelt aus dem Mist,
            So sag' auch, ob der Theurung
                Nicht noch zu wehren ist.

            Der Alte hebt die Blicke,
                Doch bis zum Himmel nicht,
            Dann tickt er mit der Krücke
                Auf's Hüttendach, und spricht:
            »War das nicht eine Aehre,
                Was ich im Stroh dort sah?
            Wenn's nicht die einz'ge wäre,
                So ist die Hülfe nah'!«

            Der Bauer geht zur Leiter
                Und deckt die Hütte ab,
            Er drischt sein Stroh noch weiter,
                Im lust'gen Klipp und Klapp,
            Und als die Körner springen,
                Da folgt ihm Mann für Mann,
            Und das wird so viel bringen,
                Daß Jeder säen kann.
 

Adolf Baginsky (1843-1918)

Nimmer vermöchte des Pöbels
Hep-Hep-Geschrei mich zu schrecken, 
Mitleid nur mit dem Schreier
Könnte sein Wahn mir erwecken.

Härter trifft den Erzogenen
Gehässiges Trachten und Denken,
Welches den Sinn uns verbitternd
Vom Wohlthun zur Härte will lenken. 
 	
Immer aber beklag´ ich
Das antisemitische Treiben,
Weil mit der Schande der Schaden
Dem bethörten Volke wird bleiben.

Else Lasker-Schüler (1869-1945)

Mein Volk 

Der Fels wird morsch,
Dem ich entspringe
Und meine Gotteslieder singe . . . 
Jäh stürz ich vom Weg
Und riesele ganz in mir
Fernab, allein über Klagegestein
Dem Meer zu.

Hab mich so abgeströmt
Von meines Blutes Mostvergorenheit.
Und immer, immer noch der Widerhall
In mir,
Wenn schauerlich gen Ost
Das morsche Felsgebein,
Mein Volk,
Zu Gott schreit.

Karl Wolfskehl (1869-1948)

Aufbruch, Aufbruch

Schaut nicht zurück,
Was säht ihr auch?
Was war, ist Rauch,
Ihr schreitet frank in Morgens Hauch.

Horcht nicht zurück – 
Lauschen macht krank,
Was war, versank.
Euch ruft das Wort
Von morscher Bank.

Denkt nicht zurück,
Was war, verdorrt.
Ein einziger Hort
Ist euch gereift,
Der Hort heißt: Dort!

Sehnt nicht zurück,
Den Stab ergreift!
Was war – bereift
Vereisten Hang,
Der Nordsturm pfeift.

Liebt nicht zurück,
Was war, zersprang.
Der Tag ist lang
Verronnen, seit
Ein Bild euch zwang!

Grollt nicht zurück!
Was war – verzeiht!
Holt aus befreit,
Winkt mit der Hand 
Gen Abend weit!

Wollt nicht zurück,
Jung lenzt das Land,
Was war, ist Tand,
Ist Tod – ihr seid
Im Wanderkleid:
Fortgehn ist Leid,
Fortgehn ist Glück –
Bleibt nicht zurück!

Gerson Stern (1874-1956)

Die Letzte

Ich hatte Mann und Kinder.
Es holte sie der Schinder,
Sie starben irgendwo.
Doch lieget meine Habe
Nicht hier, nicht dort im Grabe – 
Die Feuer lodern lichterloh.

Sie sind von den Millionen,
Die nun als Asche wohnen
Im Feld, im Drecke irgendwo.
Den Schornstein seh’ ich tauchen 
Ins Blau und rauchen, rauchen –
Die Feuer lodern lichterloh.

Vielleicht lebt in dem Winde
Ein Gruß von meinem Kinde.
Denn etwas bleibet irgendwo - -
Nun kommen sie mich rufen.
Ich steige meine Stufen....
Die Feuer lodern lichterloh.

Albrecht Haushofer (1903-1945)

Schuld

Ich trage leicht an dem, was das Gericht
Mir Schuld benennen wird: an Plan und Sorgen.
Verbrecher wär’ ich, hätt’ ich für das Morgen
Des Volkes nicht geplant aus eigner Pflicht.

Doch schuldig bin ich anders als ihr denkt:
Ich mußte früher meine Pflicht erkennen,
Ich mußte schärfer Unheil Unheil nennen –
Mein Urteil hab’ ich viel zu lang gelenkt...

Ich klage mich in meinem Herzen an:
Ich habe mein Gewissen lang betrogen,
Ich hab’ mich selbst und andere belogen – 

Ich kannte früh des Jammers ganze Bahn –
Ich hab’ gewarnt – nicht hart genug und klar!
Und heute weiß´ ich, was ich schuldig war ...

Albrecht Haushofer (1903-1945)

Untergang

Wie hört man leicht von fremden Untergängen,
Wie trägt man schwer des eignen Volkes Fall!
Vom fremden ist’s ein ferner Widerhall,
Im eignen ist’s ein lautes Todesdrängen.

Ein Todesdrängen, aus dem Haß geboren,
Im Rachetrotz und Übermut gezeugt –
Nun wird vertilgt, gebrochen und gebeugt,
Und auch das Beste geht im Sturz verloren.

Daß dieses Volk die Siege nicht ertrug –
Die Mühlen Gottes haben schnell gemahlen.
Wie furchtbar muß es nun den Rausch bezahlen.

Es war so hart, als es die Andern schlug,
So taub für seiner Opfer Todesklagen –
Wie mag es nun das Opfer-Sein ertragen...

Rudolf Elcho (1839-1923)

An jeden Hetzprediger (1893) 
Als Antisemit stehst du eingeschrieben 
Und bist doch in Wahrheit ein Antichrist. 
Dein Meister gebot dir, den Nächsten zu lieben, 
Doch du lehrst, daß hassen verdienstlich ist.

Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803)

Aus der Ode „An den Kaiser“ (Joseph II.) 
Den Priester rufst du wieder zur Jüngerschaft 
Des großen Stifters; machest zum Untertan 
Den jochbeladenen Landmann; machst den 
Juden zum Menschen. Wer hat es geendet, 

Wie du beginnest? Wenn vor des Ackerbau’s 
Schweiß nicht für ihn auch triefet des Bauern Stirn, 
Pflügt er nicht Eigentum dem Säugling, 
Seufzet er mit, wenn von Erntelasten 

Der Wagen seufzt: so bürdet Tyrannenrecht 
Dem Unterdrückten Landeserhaltung auf, 
Dienst, den die blut’ge Faust des Stärkern 
Grub in die Tafel. Und die zerschlägst du! 

Wen faßt des Mitleids Schauer nicht, wenn er sieht, 
Wie unser Pöbel Kanaans Volk entmenscht! 
Und tut der’s nicht, weil unsere Fürsten 
Sie in zu eiserne Fesseln schmieden? 

Du lösest ihnen, Retter, die rostige, 
Eng angelegte Fessel vom wunden Arm; 
Sie fühlen’s, glauben’s kaum. So lange 
Hat’s um die Elenden hergeklirrt. 

Heinrich Heine (1797-1856)

Doña Clara 
In dem abendlichen Garten 
Wandelt des Alkaden Tochter; 
Pauken- und Drommetenjubel 
Klingt herunter von dem Schlosse. 

›Lästig werden mir die Tänze 
Und die süßen Schmeichelworte, 
Und die Ritter, die so zierlich 
Mich vergleichen mit der Sonne. 

Überlästig wird mir alles, 
Seit ich sah, beim Strahl des Mondes 
Jenen Ritter, dessen Laute 
Nächtens mich ans Fenster lockte. 

Wie er stand so schlank und mutig, 
Und die Augen leuchtend schossen 
Aus dem edelblassen Antlitz, 
Glich er wahrlich Sankt Georgen.‹ 

Also dachte Doña Clara, 
Und sie schaute auf den Boden; 
Wie sie aufblickt, steht der schöne, 
Unbekannte Ritter vor ihr. 
           
Händedrückend, liebeflüsternd 
Wandeln sie umher im Mondschein. 
Und der Zephir schmeichelt freundlich, 
Märchenartig grüßen Rosen. 
           
Märchenartig grüßen Rosen, 
Und sie glühn wie Liebesboten. - 
»Aber sage mir, Geliebte, 
Warum du so plötzlich rot wirst?« 
            
»Mücken stachen mich, Geliebter, 
Und die Mücken sind, im Sommer, 
Mir so tief verhaßt, als wären's 
Langenas'ge Judenrotten.« 
             
»Laß die Mücken und die Juden«, 
Spricht der Ritter, freundlich kosend. 
Von den Mandelbäumen fallen 
Tausend weiße Blütenflocken. 
             
Tausend weiße Blütenflocken 
Haben ihren Duft ergossen. - 
»Aber sage mir, Geliebte, 
Ist dein Herz mir ganz gewogen?« 
             
»Ja, ich liebe dich, Geliebter, 
Bei dem Heiland sei's geschworen, 
Den die gottverfluchten Juden 
Boshaft tückisch einst ermordet.« 
            
»Laß den Heiland und die Juden«, 
Spricht der Ritter, freundlich kosend. 
In der Ferne schwanken traumhaft 
Weiße Lilien, lichtumflossen. 
           
Weiße Lilien, lichtumflossen, 
Blicken nach den Sternen droben. - 
»Aber sage mir, Geliebte, 
Hast du auch nicht falsch geschworen?« 
           
»Falsch ist nicht in mir, Geliebter, 
Wie in meiner Brust kein Tropfen 
Blut ist von dem Blut der Mohren 
Und des schmutz'gen Judenvolkes.« 
           
»Laß die Mohren und die Juden«, 
Spricht der Ritter, freundlich kosend; 
Und nach einer Myrtenlaube 
Führt er die Alkadentochter. 
           
Mit den weichen Liebesnetzen 
Hat er heimlich sie umflochten; 
Kurze Worte, lange Küsse, 
Und die Herzen überflossen. 
           
Wie ein schmelzend süßes Brautlied 
Singt die Nachtigall, die holde; 
Wie zum Fackeltanze hüpfen 
Feuerwürmchen auf dem Boden. 
           
In der Laube wird es stiller, 
Und man hört nur, wie verstohlen, 
Das Geflüster kluger Myrten 
Und der Blumen Atemholen. 
           
Aber Pauken und Drommeten 
Schallen plötzlich aus dem Schlosse, 
Und erwachend hat sich Clara 
Aus des Ritters Arm gezogen. 
           
»Horch! da ruft es mich, Geliebter; 
Doch, bevor wir scheiden, sollst du 
Nennen deinen lieben Namen, 
Den du mir so lang verborgen.« 
             
Und der Ritter, heiter lächelnd, 
Küßt die Finger seiner Doña, 
Küßt die Lippen und die Stirne, 
Und er spricht zuletzt die Worte: 
            
»Ich, Señora, Eu'r Geliebter, 
Bin der Sohn des vielbelobten, 
Großen, schriftgelehrten Rabbi 
Israel von Saragossa.«

Adolf Baginsky (1843-1918)

Nimmer vermöchte des Pöbels
Hep-Hep-Geschrei mich zu schrecken
Mitleid nur mit dem Schreier
Könnte sein Wahn mir erwecken.

Härter trifft den Erzogenen 
Gehässiges Trachten und Denken
Welches den Sinn uns verbitternd
Vom Wohlthun zur Härte will lenken.

Immer aber beklag´ ich
Das antisemitische Treiben,
Weil mit der Schande der Schaden
Dem bethörten Volke wird bleiben.

Werner Bergengruen (1892-1964)

Die letzte Epiphanie
Ich hatte dies Land in mein Herz genommen, 
ich habe ihm Boten um Boten gesandt.
In vielen Gestalten bin ich gekommen.
Ihr aber habt mich in keiner erkannt.

Ich klopfte bei Nacht, ein bleicher Hebräer,
ein Flüchtling, gejagt, mit zerrissenen Schuhn.
Ihr riefet dem Schergen, ihr winktet dem Späher
und meintet noch Gott einen Dienst zu tun. 

Ich kam als zitternde, geistgeschwächte
Greisin mit stummem Angstgeschrei.
Ihr aber spracht vom Zukunftsgeschlechte
und nur meine Asche gabt ihr frei.

Verwaister Knabe auf östlichen Flächen,
ich fiel euch zu Füßen und flehte um Brot.
Ihr aber scheutet ein künftiges Rächen,
ihr zucktet die Achseln und gabt mir den Tod.

Ich kam, ein Gefangner, als Tagelöhner,
verschleppt und verkauft, von der Peitsche zerfetzt.
Ihr wandtet den Blick von dem struppigen Fröner.
Nun komm ich als Richter. Erkennt ihr mich jetzt?

Martin Buber (1878-1965)

Ich lebe nicht fern von der Stadt Worms,
an die mich auch eine Tradition meiner Ahnen bindet;
und ich fahre von Zeit zu Zeit hinüber.
Wenn ich hinüberfahre, gehe ich immer zuerst zum Dom.
Das ist eine sichtbar gewordene Harmonie der Glieder,
eine Ganzheit,
in der kein Teil aus der Vollkommenheit wankt ...
Dann geh ich zum jüdischen Friedhof hinüber.
Der besteht aus schiefen, zerspellten, formlosen, richtungslosen Steinen.
Ich stelle mich darein,
blicke von diesem Friedhofsgewirr zu einer herrlichen Harmonie empor,
und mir ist,
als sähe ich von Israel zur Kirche auf ...

Ich habe da gestanden und habe alles selber erfahren,
mir ist all der Tod widerfahren:
all die Asche, all die Zerspelltheit, all der lautlose Jammer ist mein;
aber der Bund ist mir nicht aufgekündigt worden.

Ich liege am Boden hingestürzt wie diese Steine.
Aber gekündigt ist mir nicht.
Der Dom ist, wie er ist.
Der Friedhof ist, wie er ist.
Aber gekündigt ist uns nicht worden.

Der Dom ist, wie er ist.
Der Friedhof ist, wie er ist.
Aber gekündigt ist uns nicht worden.

Friedrich Hebbel (1813-1863)

Der Jude an den Christen
Ich sank zu deinen Füßen bleich und blutend,
Ich zeigte stumm auf die Vergangenheit;
Ich rief, im Sterben selbst mich noch ermutend:
Sei du mein Heiland, jüngste, stolze Zeit!

Du standest still vor mir, mich ernst betrachtend,
Dein Blick, umwölkt zwar, schien doch mitleidsvoll,
So daß mein Herz, bisher verzweifelnd schmachtend,
Zum erstenmal von sanfter Hoffnung schwoll.

Doch ach! Du zähltest schweigend nur die Wunden, 
Die langsam mich, bis auf den Kern zerstört,
Du fandest schaudernd alle unverbunden
Und wandest dich, im Innersten empört.

Nun prägt mich, allen Zeiten zu beweisen,
Daß mich kein Mensch mehr Bruder nennen kann,
Dein Griffel, Zug um Zeug, in Stein und Eisen;
Dann wiederholst du streng den alten Bann.

O, zerr es nur aus dunklem Tabernakel
Hervor, mein Bild, zerrissen und entstellt;
O, stell es nur mit jedem seiner Makel
Im Glanz der Sonne auf vor aller Welt!

Was war in eurer Märt`rer Leib zu lesen,
Wenn man zerfetzt hervor sie stieß an Licht?
Doch nur, wie hart die Folterbank gewesen - 
Für Sünden hielt man ihre Wunden nicht!

Gabriel Riesser (1806-1863)

Die Thora ("Hagbaha")
Dies ist die Thora, dies das Wort,
Das Gott uns hat gegeben,
Daß wir`s bewahren fort und fort
Und tragen durch das Leben. 
Dies ist das himmlische Panier,
Um das wir mutig stritten,
Und tausend Tode haben wir
Um dies Panier gelitten.

Gott, unser König, Gott der Macht!
Du gabst es unsern Ahnen,
verloren haben wir die Schlacht,
doch hier sind unsere Fahnen.
Wohl mancher ward, in sie gehüllt,
Den Flammen übergeben,
Wohl mancher ließ auf diesem Schild
Durchbohrt sein tapf`res Leben.

Der Feind schoß Pfeile, Feuer, Gift
In nie gestilltem Streite,
Wir retteten die Gottesschrift,
Sonst alles ward zur Beute.
Drum heben wir sie freudig auf,
Wir dürfen kühn sie zeigen,
Sie ist gekauft um hohen Kauf,
Um hohen Kauf uns eigen.

Die Kämpfer ruh`n, doch würden sie
Je wieder uns erreichen,
Sie sollen`s finden, daß wir nie
Von unsern Fahnen weichen.

"Hagbaha" (hebräisch): das Emporheben der Thorarolle am Schlusse der Vorlesung

Heinrich Heine (1797-1856)

Der tausendjährige Schmerz
Brich aus in lauten Klagen,
Du düstres Märtyrerlied,
Das ich so lang` getragen
Im flammenstillen Gemüt!

Es dringt in alle Ohren,
Und durch die Ohren ins Herz;
Ich habe gewaltig beschworen
Den tausendjährigen Schmerz.

Es weinen die Großen und Kleinen,
Sogar die kalten Herrn,
Die Frauen und Blumen weinen,
Es weinen am Himmel die Stern`.

Und alle Tränen fließen
Nach Süden im stillen Verein,
Sie fließen und ergießen
Sich all` in den Jordan hinein.

Adalbert von Chamisso (1781-1838)

Die Sonne bringt es an den Tag

Gemächlich in der Werkstatt saß 
    Zum Frühtrunk Meister Nikolas, 
    Die junge Hausfrau schenkt' ihm ein, 
    Es war im heitern Sonnenschein. - 
        Die Sonne bringt es an den Tag. 

    Die Sonne blinkt von der Schale Rand, 
    Malt zitternde Kringeln an die Wand, 
    Und wie den Schein er ins Auge faßt, 
    So spricht er für sich, indem er erblaßt: 
        »Du bringst es doch nicht an den Tag.« 

»Wer nicht? was nicht?« die Frau fragt gleich, 
»Was stierst du so an? was wirst du so bleich?« 
    Und er darauf: »Sei still, nur still; 
    Ich's doch nicht sagen kann, noch will. 
        Die Sonne bringt's nicht an den Tag.« 

    Die Frau nur dringender forscht und fragt, 
    Mit Schmeicheln ihn und Hadern plagt, 
    Mit süßem und mit bitterm Wort, 
    Sie fragt und plagt ihn fort und fort: 
    »Was bringt die Sonne nicht an den Tag?« 

»Nein, nimmermehr!« - »Du sagst es mir noch.« 
»Ich sag es nicht.« - »Du sagst es mir doch.« - 
    Da ward zuletzt er müd und schwach, 
    Und gab der Ungestümen nach. - 
        Die Sonne bringt es an den Tag. 

»Auf der Wanderschaft, 's sind zwanzig Jahr, 
    Da traf es mich einst gar sonderbar, 
Ich hatt nicht Geld, nicht Ranzen, noch Schuh', 
    War hungrig und durstig und zornig dazu. - 
        Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
 
      Da kam mir just ein Jud in die Quer, 
    Ringsher war's still und menschenleer: 
    Du hilfst mir, Hund, aus meiner Not; 
    Den Beutel her, sonst schlag ich dich tot! 
        Die Sonne bringt's nicht an den Tag. 
 
Und er: Vergieße nicht mein Blut, 
    Acht Pfennige sind mein ganzes Gut! 
    Ich glaubt ihm nicht, und fiel ihn an; 
    Er war ein alter, schwacher Mann - 
        Die Sonne bringt's nicht an den Tag. 

    So rücklings lag er blutend da, 
    Sein brechendes Aug in die Sonne sah; 
    Noch hob er zuckend die Hand empor, 
    Noch schrie er röchelnd mir ins Ohr: 
        Die Sonne bringt es an den Tag. 

 Ich macht ihn schnell noch vollends stumm, 
    Und kehrt ihm die Taschen um und um: 
    Acht Pfenn'ge, das war das ganze Geld. 
    Ich scharrt ihn ein auf selbigem Feld - 
        Die Sonne bringt's nicht an den Tag. 

    Dann zog ich weit und weiter hinaus, 
    Kam hier ins Land, bin jetzt zu Haus. - 
    Du weißt nun meine Heimlichkeit, 
    So halte den Mund und sei gescheit; 
        Die Sonne bringt's nicht an den Tag. 

Wann aber sie so flimmernd scheint, 
    Ich merk es wohl, was sie da meint, 
    Wie sie sich müht und sich erbost, - 
    Du, schau nicht hin, und sei getrost: 
        Sie bringt es doch nicht an den Tag.« 

    So hatte die Sonn eine Zunge nun, 
    Der Frauen Zungen ja nimmer ruhn. - 
    Gevatterin, um Jesus Christ! 
   Laßt Euch nicht merken, was Ihr nun wißt. - 
        Nun bringt's die Sonne an den Tag. 

    Die Raben ziehen krächzend zumal 
    Nach dem Hochgericht, zu halten ihr Mahl. 
    Wen flechten sie aufs Rad zur Stund? 
    Was hat er getan? wie ward es kund? 
        Die Sonne bracht es an den Tag. 

Gottfried Keller (1819-1890)
Die öffentlichen Verleumder

Ein Ungeziefer ruht
In Staub und trocknem Schlamme
Verborgen, wie die Flamme
In leichter Asche tut.
Ein Regen, Windeshauch
Erweckt das schlimme Leben,
Und aus dem Nichts erheben
Sich Seuche, Glut und Rauch.

Aus dunkler Höhle fährt
Ein Schächer, um zu schweifen,
Nach Beuteln möcht’ er greifen
Und findet bessern Wert:
Er findet einen Streit
Um nichts, ein irres Wissen,
Ein Banner, das zerrissen,
Ein Volk in Blödigkeit.

Er findet, wo er geht,
Die Leere dürft’ger Zeiten,
Da kann er schamlos schreiten,
Nun wird er ein Prophet;
Auf einen Kehricht stellt
Er seine Schelmenfüße
Und zischelt seine Grüße
In die verblüffte Welt.

Gehüllt in Niedertracht
Gleichwie in eine Wolke,
Ein Lügner vor dem Volke,
Ragt bald er groß an Macht
Mit seiner Helfer Zahl,
Die hoch und niedrig stehend, 
Gelegenheit erspähend,
Sich bieten seiner Wahl.

Sie teilen aus sein Wort,
Wie einst die Gottesboten
Getan mit den fünf Broten,
Das klecket fort und fort!
Erst log allein der Hund,
Nun lügen über tausend;
Und wie ein Sturm erbrausend,
So wuchert jetzt sein Pfund.

Verwandelt sind die Lande,
Die Menge lebt in Schande
Und lacht der Schofeltat!
Jetzt hat sich auch erwahrt,
Was erstlich war erfunden: 
Die Guten sind verschwunden,
Die Schlechten stehn geschart! Wenn einstmals diese Not
Lang wie ein Eis gebrochen,
Dann wird davon gesprochen,
Wie von dem schwarzen Tod
Und einen Strohmann baun
Die Kinder auf der Heide
Zu brennen Lust aus Leide
Und Licht aus altem Grau’n.

Martina Jansen (1971)

Zion relectured1
(Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin) 

„Rauch bist du, meine Tochter, 
Rauch bist du,
deine Augen sind Nebel. 
Dreh dich um, Nebel-Tochter, 
Dreh dich um, dreh dich um, 
daß du mich siehst.“

„Nebel bist du, DU, 
fern 
und dein Name ist Rauch. 
Ich lief dir nach, und ich sank zu Boden.
Ich suchte dich, und ich wurde blind. 
Ich rief dich, und du gabst keine Antwort.“ 

in das Verstummen spiel, werde licht, 
stimm an zu neuem Lied, 
Nebel-Tochter Sulamith.“  1) Vgl. Hld 1,15-16; 7,1; 1,15-16; 5,6; Jes 60,1. 

Edwin Bormann (1851-1912)

Kinderscene (1893)

Lädt sich Käthchen kleine Gäste:
Anni Hoffmann, Suse Beyer,
Minchen Walther, Doris Schreier,
Evchen Müller, Elsa Strauch –
„Kommt den das Rebekkchen auch?“ –
„Was, Rebekka Silberstein?!
Juden lad´ ich niemals ein.
Gabst du in der Schul´ nicht Acht,
Daß sie Jesum todt gemacht?“ –
„Unser Lehrer meint das, ja; 
Doch es sagt mir die Mama
(Und die weiß doch vielerlei):
Silberstein´s war´n nicht dabei!“

All mein Herz es lacht dir zu.
Besser wär´s um sie bestellt,
Zöge siegreich durch die Welt
Deine Friedensmelodei:
„Silberstein´s war´n nicht dabei!“  

Julius Stettenheim (1831-1916)

Im Concert (1893)

Du bist wie eine Blume, -
Ein wundervoller Text,
Das ist das Lied der Lieder,
Das hat mich schier behext!

Ich finde auf dem Programme
Des Dichters Namen nicht,
Es ist gewiß von Goethe,
So deutsch, so tief, so schlicht.

Das Liedchen ist von Heine.“
Ein Jude machte das Lied?
Jetzt find’  ich’s ganz abscheulich,
Ich bin Antisemit.

Theodor Fontane (1819-1898)

An meinem Fünfundsiebzigsten (Prähistorischer Adel)

Hundert Briefe sind angekommen,
Ich war vor Freude wie benommen,
Nur etwas verwundert über die Namen
Und über die Plätze, woher sie kamen. 

Ich dachte, von Eitelkeit eingesungen: 
Du bist der Mann der „Wanderungen“, 
Du bist der Mann der märk´schen Gedichte, 
Du bist der Mann der märk´schen Geschichte, 
Du bist der Mann des alten Fritzen 
Und derer, die mit ihm bei Tafel sitzen, 
Einige plaudernd, andere stumm, 
Erst in Sanssouci, dann in Elysium; 
Du bist der Mann der Jagow und Lochow, 
Der Stechow und Bredow, der Quitzow und Rochow, 
Du kanntest keine größeren Meriten 
Als die von Schwerin und vom alten Zieten, 
Du fandest in der Welt nichts so zu rühmen 
Als Oppen und Groeben und Kracht und Thümen; 
An der Schlachten und meiner Begeisterung Spitze 
Marschierten die Pfuels und Itzenplitze, 
Marschierten aus Uckermark, Havelland, Barnim 
Die Ribbecks und Kattes, die Bülow und Arnim, 
Marschierten die Treskows und Schlieffen und Schlieben – 
Und über alle hab´ ich geschrieben. 

Aber die zum Jubeltag kamen,  
Das waren doch sehr, sehr andre Namen, 
Auch „sans peur et reproche“, ohne Furcht und Tadel, 
Aber fast schon von prähistorischem Adel: 
Die auf „berg“ und auf „heim“ sind gar nicht zu fassen, 
Sie stürmen ein in ganzen Massen, 
Meyers kommen in Bataillonen, 
Auch Pollacks und die noch östlicher wohnen; 
Abram, Isack, Israel, 
Alle Patriarchen sind zur Stell, 
Stellen mich freundlich an ihre Spitze, 
Was sollen mir da noch die Itzenplitze! 
Jedem bin ich was gewesen, 
Alle haben sie mich gelesen, 
Alle kannten mich lange schon, 
Und das ist die Hauptsache... „Kommen Sie, Cohn!“ 
Hundert Briefe sind angekommen,
Ich war vor Freude wie benommen,
Nur etwas verwundert über die Namen
Und über die Plätze, woher sie kamen. 

Ich dachte, von Eitelkeit eingesungen: 
Du bist der Mann der „Wanderungen“, 
Du bist der Mann der märk´schen Gedichte, 
Du bist der Mann der märk´schen Geschichte, 
Du bist der Mann des alten Fritzen 
Und derer, die mit ihm bei Tafel sitzen, 
Einige plaudernd, andere stumm, 
Erst in Sanssouci, dann in Elysium; 
Du bist der Mann der Jagow und Lochow, 
Der Stechow und Bredow, der Quitzow und Rochow, 
Du kanntest keine größeren Meriten 
Als die von Schwerin und vom alten Zieten, 
Du fandest in der Welt nichts so zu rühmen 
Als Oppen und Groeben und Kracht und Thümen; 
An der Schlachten und meiner Begeisterung Spitze 
Marschierten die Pfuels und Itzenplitze, 
Marschierten aus Uckermark, Havelland, Barnim 
Die Ribbecks und Kattes, die Bülow und Arnim, 
Marschierten die Treskows und Schlieffen und Schlieben – 
Und über alle hab´ ich geschrieben. 

Aber die zum Jubeltag kamen,  
Das waren doch sehr, sehr andre Namen, 
Auch „sans peur et reproche“, ohne Furcht und Tadel, 
Aber fast schon von prähistorischem Adel: 
Die auf „berg“ und auf „heim“ sind gar nicht zu fassen, 
Sie stürmen ein in ganzen Massen, 
Meyers kommen in Bataillonen, 
Auch Pollacks und die noch östlicher wohnen; 
Abram, Isack, Israel, 
Alle Patriarchen sind zur Stell, 
Stellen mich freundlich an ihre Spitze, 
Was sollen mir da noch die Itzenplitze! 
Jedem bin ich was gewesen, 
Alle haben sie mich gelesen, 
Alle kannten mich lange schon, 
Und das ist die Hauptsache... „Kommen Sie, Cohn!“ 

Johann Peter Hebel (1760-1826)

Wie heißt des Kaisers Töchterlein?
 
Ratet aus, ratet ein! 
Wie heißt des Kaisers Töchterlein? 
Wie heißt das grausame Mädchen? 
Einst spann es am blutigen Rädchen, 
Einst schürt’ es hell die Flammen an 
Zum Menschenbraten lobesan; 
Dann zeichnet es rote Stickerei 
Auf Judenhaut zu guter Frist; 
Anjetzt es eine alte Jungfer ist, 
Und doch sind ihm noch Männer treu. 

(Antwort: Constitutio Criminalis Carolina;  
Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532) 

Heinrich Heine (1797-1856)

An Edom! 
Ein Jahrtausend schon und länger, 
Dulden wir uns brüderlich, 
Du, du duldest, daß ich atme, 
Daß du rasest, dulde Ich. 
Manchmal nur, in dunkeln Zeiten, 
Ward dir wunderlich zu Mut,  
Und die liebefrommen Tätzchen 
Färbtest du mit meinem Blut! 
Jetzt wird unsre Freundschaft fester,  
Und noch täglich nimmt sie zu;  
Denn ich selbst begann zu rasen, 
Und ich werde fast wie Du.

Ada Christen 1844-1901 

Ein Jude 
                    Das kleine Mützlein 
                        In den Nacken gerückt, 
                    Die alten Schuhe 
                        Bestaubt und geflickt, 
                   Das morsche Gewand 
                        Beschmutzt und zerknittert, 
                   Sein gelbes Gesicht 
                        Durchfurcht und verwittert, 
                    Die weißen Locken 
                       Zerrüttet und wild, 
                   Die klugen Augen 
                        Versöhnungsmild..... 
                   Nur um den Mund 
                        Ein lächelnder Zug, 
                    Klagt wie viel Schmach 
                        Der Greis einst trug - 
                    Wie ängstlich lächelnd 
                        Und zitternd er 
                    Sein Haupt gebeugt 
                        Vor Knecht und Herr - 
                        - - - - 
                   Es wurde Licht! - 
                        Er wurde frei - 
                    Der Fluch und die Schmach 
                        Sie zogen vorbei 
                    Von seinem Elend 
                        Blieb ihm nur 
                    Des Sclavenlächelns 
                        Tiefe Spur. 

Klabund (Pseud. für Alfred Henschke; 1890 – 1928)

Pogrom
 
Am Sonntag fällt ein kleines Wort im Dom, 
Am Montag rollt es wachsend durch die Gasse, 
Am Dienstag spricht man schon vom Rassenhasse, 
Am Mittwoch rauscht und raschelt es: Pogrom!
 
Am Donnerstag weiß man es ganz bestimmt: 
Die Juden sind an Rußlands Elend schuldig! 
Wir waren nur bis dato zu geduldig. 
(Worauf man einige Schlucke Wodka nimmt...) 

Der Freitag bringt die rituelle Leiche, 
Man stößt den Juden Flüche in die Rippen 
Mit festen Messern, daß sie rückwärts kippen. 
Die Frauen wirft man in diverse Teiche. 

Am Samstag liest man in der »guten« Presse: 
Die kleine Rauferei sei schon behoben, 
Man müsse Gott und die Regierung loben... 
(Denn andernfalls kriegt man eins in die Fresse.) 

Friedrich Hebbel (1813-1863)

Das Korn auf dem Dache
            Der Frühling ist gekommen,
                Doch war der Winter scharf
            Und hat mit weggenommen
                Den nöthigsten Bedarf;
            Die Pflüge bleiben stehen,
               Es fehlt ja an der Saat,
            Und muß auch was geschehen,
                So weiß doch Keiner Rath.

            Da hinkt ein alter Jude
               In weißem Bart durch's Dorf,
            Der kroch aus seiner Bude
                Um etwas Sprock und Torf.
            Er weilt bei jedem Schober
                Und späht und bückt sich oft,
           Und voll ist ihm der Kober,
               Bevor er's noch gehofft.

            Die Arbeit ward ihm sauer,
                Nun will er denn nach Haus,
            Da tritt ein müß'ger Bauer
                Aus seiner Thür heraus.
            Der ruft: Du hast dir Feu'rung
                Gesammelt aus dem Mist,
           So sag' auch, ob der Theurung
                Nicht noch zu wehren ist. 

            Der Alte hebt die Blicke,
               Doch bis zum Himmel nicht,
            Dann tickt er mit der Krücke
                Auf's Hüttendach, und spricht:
            »War das nicht eine Aehre,
                Was ich im Stroh dort sah?
            Wenn's nicht die einz'ge wäre,
                So ist die Hülfe nah'!«

               Und deckt die Hütte ab,
            Er drischt sein Stroh noch weiter,
                Im lust'gen Klipp und Klapp,
            Und als die Körner springen,
                Da folgt ihm Mann für Mann,
          Und das wird so viel bringen,
                Daß Jeder säen kann.

Friederike Kempner (1836 – 1904)

Die Judenkirsche. 
(Physallis Alkekengi) 
                Ein kleines, ernstes Bäumchen 
                Streckt seine Zweige aus, 
                Es ließ nicht gern sich essen, 
                Und Haß war drum sein Los! 
                Hellrot sind seine Früchte, 
                Die Blüten weiß wie Schnee, 
                Es zeuget die Geschichte 
                Von Bäumchens Schmerzensweh!

Hugo Salus (1866 –1929)

Der Heimatlose 

Was wißt ihr, die ihr Heimat habt, 
Vom Heimatwunsch des Heimatlosen! 
Mag euch der Schicksalssturm umtosen, 
Ach, ihr seid reich und seid begabt! 
So arm ihr sein mögt, seid voll Mut, 
Kehrt heimwärts, ihr pocht nie vergebens 
Am Heimatstor: im Boden ruht 
Dort fest der Anker eures Lebens.
 
Nicht dort ist Heimat, wo in Wehn 
Die Mutter euch ins Leben setzte, 
Dort, wo als Fluchtstatt noch, als letzte, 
Der Kindheitsträume Burgen stehn, 
Wo ihr noch Kinder durftet sein, 
Eh´ daß ihr mußtet Menschen werden! 

Doch weh dem Elenden, dem Haß 
Schon seinen Kindheitswahn zerstörte, 
Dem nicht ein Häufchen Sand gehörte: 
Des Nachbars Kind mißgönnt ihm das! 
Der durch sein Blut, der Mutter Wort 
Ein andrer schien ringsum den andern, 
Ihn stößt die Heimat grausam fort, 
Und seine Heimat liegt im Wandern.
 
Mein Kind, mein Ruh, ich beuge mich 
In banger Liebe auf dich nieder; 
Dir schließt der Frieden noch die Lider, 
Und traumlos schaust du noch um dich. 
Doch bald erwachst auch du zum Traum 
Und sollst dir deine Heimat gründen: 
Dann mögen deine Füßchen Raum 
Für ihre Kinderheimat finden.

Adalbert von Chamisso (1781-1838)

Abba Glosk Leczeka 

Es schallen gut im Liede der Purpur und das Schwert, 
Doch hüllt sich oft in Lumpen, der auch ist preisenswert; 
Ich führ euch einen Juden und Bettler heute vor, 
Den Abba Glosk Leczeka, verschließt ihm nicht das Ohr.
 
Er harrte vor der Türe von Moses Mendelssohn 
Gelassen und geduldig vor Sonnenaufgang schon; 
Wie hoch in Himmelsräumen zu steigen sie begann, 
Trat erst aus seiner Wohnung der weitberühmte Mann.
 
Ihn grüßt der fremde Bettler in polnisch jüd'scher Tracht, 
Sein Gruß den Schriftgelehrten dem andern kenntlich macht, 
Er aber geht vorüber: »An Zeit es mir gebricht!« - 
Der Fremde weicht zurücke, doch von der Schwelle nicht.
 
Und Mittag ward's und Abend, und als zur Nacht es ging, 
Die Stadt in ihren Straßen die Schatten schon empfing, 
Kam heim zu seinem Herde der weitberühmte Mann, 
Da grüßt' ihn noch der Bettler, wie morgens er getan. 

Er sucht in seiner Börse nach einem Silberstück, 
Ihm hält der fremde Bettler die milde Hand zurück: 
»Das nicht von dir begehr ich, nur dein lebend'ges Wort, 
Mich führt der Durst nach Wahrheit allein an diesen Ort.« -
 
»Du scheinst der kleinen Gabe bedürftig mir zu sein.« - 
»Du hältst mich für unwürdig der größern!« - »Tritt herein! 
Suchst redlich du die Wahrheit, die vielen so verhaßt, 
So sei dem Gleichgesinnten ein liebgehegter Gast.« 

Beim wogenden Gespräche, beim häuslich trauten Mahl, 
Beim Becher edlen Weines, dem flüss'gen Sonnenstrahl, 
Erblüht dem fremden Bettler die Rede wunderbar, 
Ein Gläub'ger und ein Denker, wie nie noch einer war.
 
Er hat des Wortes Fessel gesprengt mit Geistes-Kraft, 
Er hängt am Guten, Wahren so recht mit Leidenschaft, 
Er sprühet Lichtgedanken so machtvoll vor sich hin, 
So eignen Reiz verleiht ihm sein heitrer froher Sinn.
 
Und ob des seltnen Mannes verwundert und erfreut, 
Der seine Neigung fesselt und Ehrfurcht ihm gebeut, 
Fragt Mendelssohn ihn traulich: »Wie haben Schul und Welt 
So seltsam dich erzogen und deinen Geist erhellt?«
 
Drauf er: »Du lenkst vom Lichte die Blicke niederwärts, 
Zu forschen nach dem Menschen und schauen ihm ins Herz; 
Ich zeige mich dem Freunde, und meinen Weg und Ziel, 
Und melde, wie die Binde mir von den Augen fiel. 

Mein Forschen und mein Trachten, das bin ich selbst und ganz; 
Minuten so wie diese sind meines Lebens Glanz; 
Ich trage sechzig Jahre noch frisch und wohlgemut, 
Noch schmilzt den Schnee des Alters des Herzens innre Glut. 

Zu Glosk in unsern Schulen bekam ich Unterricht; 
Der Talmud und der Talmud! sie wußten andres nicht; 
Verhangen und verfinstert das göttliche Gebot, 
Das leis aus tiefstem Herzen sich doch mir mahnend bot. 

Wie hab ich oft mit Schmerzen die stumme Mitternacht 
Auf ihren toten Büchern verstört herangewacht; 
Wie hätt ich fromm und willig den Lehrern nur geglaubt, 
Und wiegte doch verneinend mein sorgenschweres Haupt.
 
Und nun ich sollte lehren, so wie ich selbst belehrt, 
Da hat sich mir die Rede gar wundersam verkehrt; 
Da schalt aus mir die Stimme auf Satzungen und Trug, 
Dem Blitze zu vergleichen, der aus den Wolken schlug.
 
Sie haben sich entsetzet, sie haben mich fortan 
Bedrohet und gefährdet und in den Bann getan; 
Ich hatte mich gefunden, ich war, der ich nun bin, 
Ich folgte meiner Sendung mit leichtem, freud'gem Sinn. 

So wallt ich, in der Heimat ein Fremder, nun hinfort 
Verstoßen, fluchbeladen, unstät von Ort zu Ort, 
Und forschte, sprach und lehrte, und trachtete doch nur, 
Das arme Volk zu leiten auf eine beßre Spur.
 
Und dreizehn Bücher hatt ich verfaßt mit allem Fleiß, 
Die Bücher, sie enthielten das Beste, was ich weiß; 
Zu Wilna, oh! da waren fast grausam allzusehr 
Die Ältesten des Volkes, wie nirgends anders mehr. 

Sie haben meine Bücher zerrissen insgesamt, 
Und haben zu den Flammen sie ungehört verdammt; 
Sie schichteten den Holzstoß beim alten Apfelbaum 
Vor ihrer Synagoge im innern Hofesraum. 

Da standen in dem Rauche die Alten blöd und blind, 
Den schlug auf sie hernieder ein mächt'ger Wirbelwind, 
Gereinigt schwang die Flamme sich zu dem höhern Licht; 
Den Geist, das Licht, die Sonne vernichten sie doch nicht.
 
Ich selbst ich sollte sterben, kaum heimlich war der Rat; 
Doch fand sich ein Rabbiner, der um mein Leben bat, 
Ich wurde bloß gegeißelt, und als man frei mich gab, 
So griff ich heitern Sinnes zu meinem Wanderstab.
 
Der freud'ge, rüst'ge Waller zieht über Berg und Tal, 
Ihm scheinet, ihn erwärmet der lieben Sonne Strahl, 
Der Schoß der grünen Erde empfängt mit rechter Lust 
Sein müdes Haupt am Abend, er ruht an Mutterbrust. 

Wer je von seinen Brüdern den Hunger selber litt, 
Teilt ihm vom letzten Brote gern einen Brocken mit, 
Er zieht durch Land und Städte und rühmt sich reich und frei, 
Und weiß von keiner Armut und keiner Sklaverei. 

Vor Sprach- und Stammverwandten entquillt an jedem Ort 
Aus übervollem Herzen ihm das lebend'ge Wort, 
Zu lehren und zu bessern, zu sichten sonder Scheu 
Den Glauben von dem Wahne, den Weizen von der Spreu.
 
Ist Felsen auch der Boden, die Saat verstreue nur! 
Es träufelt auf den Felsen, wie auf die grüne Flur, 
Des Ew'gen milder Regen. Beharrlichkeit! Geduld! 
Du zahlest deinem Schöpfer so deines Lebens Schuld.
 
Und herwärts zog mich mächtig und ahndungsvoll mein Herz, 
Von deines Namens Klange gelockt, du reines Erz; 
Du bist, den ich gesuchet, du, der vom Wahne fern 
Zerbricht die hohle Schale und sucht nach ihrem Kern.
 
Das will auch ich, so reiche mir deine liebe Hand, 
Wir schaffen hier und knüpfen ein gottgefällig Band; 
Das Licht, das ist das Gute; die Finsternis, die Nacht, 
Das ist das Reich der Sünde und ist des Bösen Macht. 

Dir strömet von den Lippen ein ruhig klarer Born, 
Es leiht gewalt'ge Worte mir oft ein heil'ger Zorn; 
So laß vor unserm Volke zerreißen uns vereint 
Des Aberglaubens Schleier, bis hell der Tag ihm scheint. 

Nicht träge denn, nicht lässig; die Hand ans Werk gelegt! 
Versammle du die Jünger, es tagt, die Stunde schlägt! 
Wir hammern an den Felsen, bis hell der Stein erklingt, 
Und an das Licht der Sprudel lebend'gen Wassers springt.«
 
Darauf mit Rührung lächelnd der Wirt zu seinem Gast: 
»Genügt dir nicht, du Guter, was du erduldet hast? 
Soll wiederum sich schichten ein Scheiterhaufen? kann 
Die Geißel nicht dich lehren? du lehrbegier'ger Mann! 

Du forschest nach der Wahrheit; erkenne doch die Welt, 
Die fester als am Glauben am Aberglauben hält; 
Was je gelebt im Geiste, gehört der Ewigkeit, 
Nur ruft es erst ins Leben die allgewalt'ge Zeit.
 
Bleib hie und lerne schweigen, wo sprechen nicht am Ort; 
Du magst im Stillen forschen, erwägen Geist und Wort, 
Und magst das Korn der Furche der Zeiten anvertraun; 
Vielleicht wird einst dein Enkel die goldnen Saaten schaun.«
 
Drauf er: »Du schweigst, du Kluger, und schweigen soll mein Mund! 
So sprich, wer soll denn reden und tun die Wahrheit kund? 
Du helles Licht des Geistes sollst leuchten freundlich mir; 
Die Hand darauf! - wir scheiden! mein Pfad, der trennt sich hier.« 

Er ging; dem Flammengeiste, dem Flammenherzen galt 
Für Feigheit jede Vorsicht, und freundlich zürnend schalt 
Ihn Mendelssohn vergebens; er ging und lehrt' und sprach, 
Bis über ihn aufs neue das Ungewitter brach.
 
Die Ältesten des Volkes entrüstet, luden ihn 
Vor ihre Schranken: »Rede, was machst du in Berlin?« - 
»Ich forsch in dem Gesetze, darüber sprech ich auch 
Mit andern Schriftgelehrten nach hergebrachtem Brauch.« - 

»Du stehst in keinem Dienste? hast kein Gewerbe?« - »Nein! 
Ich kann und will nicht handeln, und mag nicht dienstbar sein.« - 
»Und wir, nach hies'ger Ordnung, verbieten diese Stadt 
Dem ärgerlichen Neurer, der hier gelästert hat.« 

Darauf erhob sich Abba und sprach: »Hartherzigkeit, 
Du bist zur Ordnung worden, du herrschest hier zur Zeit! 
Und kennt ihr den Propheten Jeremia denn nicht, 
Der so aus meinem Munde zu euch, ihr Starren, spricht:
 
'Die Missetat der Tochter von Sion, unerhört! 
Verdunkelt Sodoms Sünde, die doch mein Grimm zerstört.' 
Die Schrift und die Propheten, die les ich Tag und Nacht, 
Und hab auch andre Worte zu eigen mir gemacht! 

'Du sollst dich nicht entsetzen, und sollst, du Menschenkind, 
Vor ihnen dich nicht fürchten, die mir abtrünnig sind; 
Du wohnst bei scharfen Dornen und Skorpionen dort, 
Doch sollst du dich nicht fürchten, verkündest du mein Wort.'« 

Sie holten ihn am Abend wohl mit der Polizei, 
Ihn auf die Post zu bringen, er rief den Freund herbei, 
Der schafft' ihm einen Dienstschein, geschirmet war er so 
Vor seinen Widersachern, sie waren des nicht froh. 

Und eine Rechnung reichten zur Zahlung sie ihm dar, 
Wo Postgeld nebst der Bütteln Gebühr verzeichnet war; 
Er aber sprach und lachte: »Geduldet euch, ihr Herrn, 
Hier paßt wohl ein Geschichtchen, und ich erzähl es gern:
 
Den Unsern wird zu Lemberg ein kummervolles Los, 
Die jungen Herrn, die Schüler sind ganz erbarmungslos, 
Den armen Unterdrückten mißhandeln sie und schmähn, 
Und werfen ihn mit Steinen, wo immer sie ihn sehn. 

Als einer, den sie schlugen, nah am Verscheiden war, 
Vermaß sich die Gemeinde, bedrängt von der Gefahr, 
Den Jesuiten Obern zu klagen ihre Not; 
Die haben unparteiisch erlassen ein Verbot: 

Es dürfen nicht die Schüler aus eitlem Zeitvertreib 
Die Juden so mißhandeln, daß sie an ihrem Leib 
Beschädigt werden möchten; es wird auch untersagt, 
Blutrünstig sie zu schlagen, wie eben wird geklagt. 

Ein arglos Schimpfen, Werfen, ein Stoß und solcherlei, 
Das müssen sie erdulden und steht den Schülern frei, 
Weil mancher unter diesen ist guter Eltern Kind, 
Und Juden doch am Ende nur eben Juden sind. 

Ein Jud in diesen Tagen, der her die Straße kam, 
Bemerkte, daß ein Schüler ihn recht zum Ziele nahm, 
Er bückte sich bei Zeiten, und wich dem Stein noch aus, 
Der klirrend flog ins Fenster dem nächsten Bürgerhaus. 

Die Scheibe war zerbrochen; der Bürger säumte nicht, 
Und zog, Ersatz zu fodern, den Juden vor Gericht: 
'Denn hättest du gestanden dem Wurf, wie sich's gebührt, 
So wurde von dem Steine mein Fenster nicht berührt.' 

'Ihr habt den Stein geworfen, ich habe mich gebückt, 
So hat der Wurf die Scheibe des Nachbars nur zerstückt; 
Ich soll die Scheibe zahlen, das Recht, das eure, spricht's, 
Doch hat das Recht verloren, denn, seht! ich habe nichts.'« 

Als jene sich entfernet, verblieben noch die zwei 
Im traulichen Gespräche, sie dachten laut und frei; 
Begegnen sich die Geister verwandt im Lichtrevier, 
Das ist des Lebens Freude, das ist des Lebens Zier. 

Und Abba zu dem Freunde: »Bin friedlich ja gesinnt, 
Du siehst, daß aller Orten sich Hader um mich spinnt; 
Frei muß ich denken, sprechen und atmen Gottes Luft, 
Und wer die drei mir raubet, der legt mich in die Gruft. 

Von hinnen will ich ziehen, den Wanderstab zur Hand 
Ein Land der Freiheit suchen, nach Holland, Engelland; 
Der Druck hat hier den Juden Bedrückung auch gelehrt, 
Wohl wird er Duldung üben, wo Duldung er erfährt.« 

Und Mendelssohn dagegen und schüttelte das Haupt: 
»Du liebewerter Schwärmer, der noch an Duldung glaubt, 
Zeuch hin, dich bloß zu geben auch dort der Eulenbrut! 
Dein zugewognes Glücksteil, das ist dein froher Mut.« - 

»Mein zugewognes Glücksteil, das ist die Liebe mein 
Zu meinem Volk; mein Glaube, zu bessern müss' es sein; 
Mein Hoffen, mitzuwirken dazu mit Gut und Blut; 
Du nennst die drei zusammen, das ist mein froher Mut.« 

Und frohen Mutes nahm er den Wanderstab zur Hand, 
Und zog wohl in die Fremde, nach Holland, Engelland; 
Den blut'gen Welterobrer verfolgt die Sage nur, 
Vom Menschenfreund und Bettler verlieret sich die Spur. 

Zurück nach manchen Jahren gleich frohen Mutes kam 
Er nach Berlin gewandert; sein rechter Arm war lahm; 
Und blind sein andres Auge, vernarbt sein Angesicht, 
Sein Herz allein, das alte, verändert war es nicht. 

So trat er freundlich lächelnd vor Moses Mendelssohn: 
»Wie dort es mir ergangen, du Kluger, siehst es schon; 
Sie haben mich geschmähet, mißhandelt und verbannt, 
War ihnen Macht gegeben, sie hätten mich verbrannt.« 

Und wieder frohen Mutes, da ihn Berlin verstieß, 
Zog er nach seiner Heimat, die Haß ihm nur verhieß, 
Da wallt' er rüst'gen Schrittes, ein Fremder, fort und fort, 
Verstoßen, fluchbeladen, unstät von Ort zu Ort. 

Einst sucht' er wohl vergebens seit manchem Tag vielleicht, 
Wer ihm von seinem Brote das dürft'ge Stück gereicht; 
Der Schoß der Mutter Erde empfing zur letzten Ruh 
Sein graues Haupt, ihm fielen die müden Augen zu. 

Heinrich Heine (1797 – 1856)

Disputation 
    In der Aula zu Toledo 
              Klingen schmetternd die Fanfaren; 
             Zu dem geistlichen Turnei 
              Wallt das Volk in bunten Scharen. 

              Das ist nicht ein weltlich Stechen, 
              Keine Eisenwaffe blitzet - 
              Eine Lanze ist das Wort, 
              Das scholastisch scharf gespitzet. 

              Nicht galante Paladins 
              Fechten hier, nicht Damendiener - 
              Dieses Kampfes Ritter sind 
              Kapuziner und Rabbiner.
 
              Statt des Helmes tragen sie 
              Schabbesdeckel und Kapuzen; 
              Skapulier und Arbekanfeß 
              Sind der Harnisch, drob sie trutzen. 

              Welches ist der wahre Gott? 
              Ist es der Hebräer starrer 
              Großer Eingott, dessen Kämpe 
             Rabbi Juda' der Navarrer?
 
              Oder ist es der dreifalt'ge 
              Liebegott der Christianer, 
             Dessen Kämpe Frater Jose, 
              Gardian der Franziskaner? 

             Durch die Macht der Argumente, 
             Durch der Logik Kettenschlüsse 
             Und Zitate von Autoren, 
             Die man anerkennen müsse, 

             Will ein jeder Kämpe seinen 
             Gegner ad absurdum führen 
             Und die wahre Göttlichkeit 
             Seines Gottes demonstrieren. 

             Festgestellt ist: daß derjen'ge, 
             Der im Streit ward überwunden, 
             Seines Gegners Religion 
             Anzunehmen sei verbunden,
 
             Daß der Jude sich der Taufe 
             Heil'gem Sakramente füge, 
             Und im Gegenteil der Christ 
             Der Beschneidung unterliege. 

             Jedem von den beiden Kämpen 
             Beigesellt sind elf Genossen, 
             Die zu teilen sein Geschick 
             Sind in Freud und Leid entschlossen.
 
             Glaubenssicher sind die Mönche 
             Von des Gardians Geleitschaft, 
             Halten schon Weihwasserkübel 
             Für die Taufe in Bereitschaft,
 
             Schwingen schon die Sprengelbesen 
             Und die blanken Räucherfässer - 
             Ihre Gegner unterdessen 
             Wetzen die Beschneidungsmesser. 

             Beide Rotten stehn schlagfertig 
             Vor den Schranken in dem Saale, 
             Und das Volk mit Ungeduld 
             Harret drängend der Signale. 

             Unterm güldnen Baldachin 
             Und umrauscht vom Hofgesinde 
             Sitzt der König und die Kön'gin; 
             Diese gleichet einem Kinde. 

             Ein französisch stumpfes Näschen, 
             Schalkheit kichert in den Mienen, 
             Doch bezaubernd sind des Mundes 
             Immer lächelnde Rubinen. 

             Schöne, flatterhafte Blume - 
             Daß sich ihrer Gott erbarme - 
             Von dem heitern Seineufer 
           Wurde sie verpflanzt, die arme,
 
            Hierher in den steifen Boden 
            Der hispanischen Grandezza; 
            Weiland hieß sie Blanch' de Bourbon, 
            Doña Blanka heißt sie jetzo. 

           Pedro wird genannt der König 
            Mit dem Zusatz der Grausame; 
           Aber heute, milden Sinnes, 
            Ist er besser als sein Name.
 
            Unterhält sich gut gelaunt 
            Mit des Hofes Edelleuten; 
            Auch den Juden und den Mohren 
            Sagt er viele Artigkeiten.
 
            Diese Ritter ohne Vorhaut 
            Sind des Königs Lieblingsschranzen, 
            Sie befehl'gen seine Heere, 
           Sie verwalten die Finanzen. 

            Aber plötzlich Paukenschläge, 
            Und es melden die Trompeten, 
            Daß begonnen hat der Maulkampf, 
            Der Disput der zwei Athleten.
 
            Der Gardian der Franziskaner 
            Bricht hervor mit frommem Grimme; 
           Polternd roh und widrig greinend 
           Ist abwechselnd seine Stimme.
 
           In des Vaters und des Sohnes 
           Und des Heil'gen Geistes Namen 
           Exorzieret er den Rabbi, 
           Jakobs maledeiten Samen.
 
           Denn bei solchen Kontroversen 
           Sind oft Teufelchen verborgen 
           In dem Juden, die mit Scharfsinn, 
           Witz und Gründen ihn versorgen.
 
           Nun die Teufel ausgetrieben 
           Durch die Macht des Exorzismus, 
           Kommt der Mönch auch zur Dogmatik, 
           Kugelt ab den Katechismus.
 
          Er erzählt, daß in der Gottheit 
           Drei Personen sind enthalten, 
           Die jedoch zu einer einz'gen, 
           Wenn es passend, sich gestalten -
 
           Ein Mysterium, das nur 
           Von demjen'gen wird verstanden, 
           Der entsprungen ist dem Kerker 
           Der Vernunft und ihren Banden. 

             Er erzählt: wie Gott der Herr 
             Ward zu Bethlehem geboren 
             Von der Jungfrau, welche niemals 
             Ihre Jungferschaft verloren;
 
             Wie der Herr der Welt gelegen 
             In der Krippe, und ein Kühlein 
             Und ein Öchslein bei ihm stunden, 
             Schier andächtig, zwei Rindviehlein.
 
             Er erzählte: wie der Herr 
             Vor den Schergen des Herodes 
             Nach Ägypten floh, und später 
             Litt die herbe Pein des Todes 

             Unter Pontio Pilato, 
             Der das Urteil unterschrieben, 
            Von den harten Pharisäern, 
             Von den Juden angetrieben.
 
             Er erzählte: wie der Herr, 
            Der entstiegen seinem Grabe 
            Schon am dritten Tag, gen Himmel 
             Seinen Flug genommen habe;
 
             Wie er aber, wenn es Zeit ist, 
             Wiederkehren auf die Erde 
              Und zu Josaphat die Toten 
              Und Lebend'gen richten werde.
 
              »Zittert, Juden!« rief der Mönch, 
             »Vor dem Gott, den ihr mit Hieben 
              Und mit Dornen habt gemartert, 
              Den ihr in den Tod getrieben.
 
              Seine Mörder, Volk der Rachsucht, 
              Juden, das seid ihr gewesen - 
              Immer meuchelt ihr den Heiland, 
              Welcher kommt, euch zu erlösen.
 
              Judenvolk, du bist ein Aas, 
              Worin hausen die Dämonen; 
              Eure Leiber sind Kasernen 
              Für des Teufels Legionen.
 
              Thomas von Aquino sagt es, 
              Den man nennt den großen Ochsen 
              Der Gelehrsamkeit, er ist 
              Licht und Lust der Orthodoxen.
 
              Judenvolk, ihr seid Hyänen, 
              Wölfe, Schakals, die in Gräbern 
              Wühlen, um der Toten Leichnam' 
              Blutfraßgierig aufzustöbern.
 
             Juden, Juden, ihr seid Säue, 
             Paviane, Nashorntiere, 
             Die man nennt Rhinozerosse, 
             Krokodile und Vampire. 

             Ihr seid Raben, Eulen, Uhus, 
             Fledermäuse, Wiedehöpfe, 
             Leichenhühner, Basilisken, 
             Galgenvögel, Nachtgeschöpfe.
 
             Ihr seid Vipern und Blindschleichen, 
             Klapperschlangen, gift'ge Kröten, 
             Ottern, Nattern - Christus wird 
             Eu'r verfluchtes Haupt zertreten.
 
             Oder wollt ihr, Maledeiten, 
             Eure armen Seelen retten? 
             Aus der Bosheit Synagoge 
             Flüchtet nach den frommen Stätten,
 
            Nach der Liebe lichtem Dome, 
            Wo im benedeiten Becken 
            Euch der Quell der Gnade sprudelt - 
            Drin sollt ihr die Köpfe stecken -
 
             Wascht dort ab den alten Adam 
             Und die Laster, die ihn schwärzen; 
             Des verjährten Grolles Schimmel, 
             Wascht ihn ab von euren Herzen! 

             Hört ihr nicht des Heilands Stimme? 
             Euren neuen Namen rief er - 
             Lauset euch an Christi Brust 
             Von der Sünde Ungeziefer!
 
             Unser Gott, der ist die Liebe, 
             Und er gleichet einem Lamme; 
             Um zu sühnen unsre Schuld, 
             Starb er an des Kreuzes Stamme.
 
            Unser Gott, der ist die Liebe, 
             Jesus Christus ist sein Name; 
             Seine Duldsamkeit und Demut 
             Suchen wir stets nachzuahmen.
 
             Deshalb sind wir auch so sanft, 
             So leutselig, ruhig, milde, 
             Hadern niemals, nach des Lammes, 
             Des Versöhners, Musterbilde.
 
             Einst im Himmel werden wir 
             Ganz verklärt zu frommen Englein, 
             Und wir wandeln dort gottselig, 
             In den Händen Lilienstenglein.
 
           Statt der groben Kutten tragen 
           Wir die reinlichsten Gewänder 
           Von Muss'lin, Brokat und Seide, 
           Goldne Troddeln, bunte Bänder.
 
           Keine Glatze mehr! Goldlocken 
           Flattern dort um unsre Köpfe; 
           Allerliebste Jungfraun flechten 
          Uns das Haar in hübsche Zöpfe.
 
           Weinpokale wird es droben 
           Von viel weiterm Umfang geben, 
           Als die Becher sind hier unten, 
           Worin schäumt der Saft der Reben.
 
           Doch im Gegenteil viel enger 
          Als ein Weibermund hienieden, 
           Wird das Frauenmündchen sein, 
          Das dort oben uns beschieden.
 
           Trinkend, küssend, lachend wollen 
           Wir die Ewigkeit verbringen, 
           Und verzückt Halleluja, 
           Kyrie eleison singen.« 

          Also schloß der Christ. Die Mönchlein 
           Glaubten schon, Erleuchtung träte 
              In die Herzen, und sie schleppten 
              Flink herbei das Taufgeräte.
 
              Doch die wasserscheuen Juden 
              Schütteln sich und grinsen schnöde. 
              Rabbi Juda, der Navarrer, 
              Hub jetzt an die Gegenrede:
 
             »Um für deine Saat zu düngen 
              Meines Geistes dürren Acker, 
              Mit Mistkarren voll Schimpfwörter 
              Hast du mich beschmissen wacker.
 
              So folgt jeder der Methode, 
              Dran er nun einmal gewöhnet, 
              Und anstatt dich drob zu schelten, 
              Sag ich Dank dir, wohlversöhnet. 

              Die Dreieinigkeitsdoktrin 
              Kann für unsre Leut' nicht passen, 
              Die mit Regula-de-tri 
              Sich von Jugend auf befassen. 

              Daß in deinem Gotte drei, 
              Drei Personen sind enthalten, 
              Ist bescheiden noch, sechstausend 
              Götter gab es bei den Alten.
 
             Unbekannt ist mir der Gott, 
             Den ihr Christum pflegt zu nennen; 
             Seine Jungfer Mutter gleichfalls 
             Hab ich nicht die Ehr' zu kennen.
 
             Ich bedaure, daß er einst, 
             Vor etwa zwölfhundert Jahren, 
             Ein'ge Unannehmlichkeiten 
             Zu Jerusalem erfahren. 

             Ob die Juden ihn getötet, 
             Das ist schwer jetzt zu erkunden, 
             Da ja das Corpus delicti 
             Schon am dritten Tag verschwunden.
 
             Daß er ein Verwandter sei 
             Unsres Gottes, ist nicht minder 
             Zweifelhaft; soviel wir wissen, 
             Hat der letztre keine Kinder. 

            Unser Gott ist nicht gestorben 
             Als ein armes Lämmerschwänzchen 
             Für die Menschheit, ist kein süßes 
             Philantröpfchen, Faselhänschen.
 
             Unser Gott ist nicht die Liebe; 
             Schnäbeln ist nicht seine Sache, 
              Denn er ist ein Donnergott 
              Und er ist ein Gott der Rache.
 
              Seines Zornes Blitze treffen 
              Unerbittlich jeden Sünder, 
              Und des Vaters Schulden büßen 
              Oft die späten Enkelkinder. 

             Unser Gott, der ist lebendig, 
              Und in seiner Himmelshalle 
              Existieret er drauflos 
              Durch die Ewigkeiten alle. 

              Unser Gott, und der ist auch 
              Ein gesunder Gott, kein Mythos 
              Bleich und dünne wie Oblaten 
              Oder Schatten am Cocytos.
 
              Unser Gott ist stark. In Händen 
              Trägt er Sonne, Mond, Gestirne; 
              Throne brechen, Völker schwinden, 
              Wenn er runzelt seine Stirne.
 
              Und er ist ein großer Gott. 
              David singt: Ermessen ließe 
             Sich die Größe nicht, die Erde 
              Sei der Schemel seiner Füße.
 
            Unser Gott liebt die Musik, 
            Saitenspiel und Festgesänge; 
            Doch wie Ferkelgrunzen sind 
            Ihm zuwider Glockenklänge.
 
            Leviathan heißt der Fisch, 
            Welcher hause im Meeresgrunde; 
            Mit ihm spielet Gott der Herr 
            Alle Tage eine Stunde - 

            Ausgenommen an dem neunten 
            Tag des Monats Ab, wo nämlich 
            Eingeäschert ward sein Tempel; 
            An dem Tag ist er zu grämlich.
 
            Des Leviathans Länge ist 
            Hundert Meilen, hat Floßfedern 
            Groß wie König Ok von Basan, 
            Und sein Schwanz ist wie ein Zedern.
 
            Doch sein Fleisch ist delikat, 
            Delikater als Schildkröten, 
            Und am Tag der Auferstehung 
            Wird der Herr zu Tische beten
 
            Alle frommen Auserwählten, 
            Die Gerechten und die Weisen - 
            Unsres Herrgotts Lieblingsfisch 
            Werden sie alsdann verspeisen,
 
         Teils mit weißer Knoblauchbrühe, 
         Teils auch braun in Wein gesotten, 
         Mit Gewürzen und Rosinen, 
         Ungefähr wie Mateloten. 

        In der weißen Knoblauchbrühe 
         Schwimmen kleine Schäbchen Rettich - 
         So bereitet, Frater Jose, 
         Mundet dir das Fischlein, wett ich!
 
         Auch die braune ist so lecker, 
         Nämlich die Rosinensauce, 
         Sie wird himmlisch wohl behagen 
         Deinem Bäuchlein, Frater Jose.
 
         Was Gott kocht, ist gut gekocht! 
         Mönchlein, nimm jetzt meinen Rat an, 
         Opfre hin die alte Vorhaut 
         Und erquick dich am Leviathan.«
 
         Also lockend sprach der Rabbi, 
         Lockend, ködernd, heimlich schmunzelnd, 
         Und die Juden schwangen schon 
         Ihre Messer wonnegrunzelnd,
 
             Um als Sieger zu skalpieren 
            Die verfallenen Vorhäute, 
             Wahre spolia opima 
             In dem wunderlichen Streite. 

             Doch die Mönche hielten fest 
             An dem väterlichen Glauben 
             Und an ihrer Vorhaut, ließen 
             Sich derselben nicht berauben. 

             Nach dem Juden sprach aufs neue 
             Der katholische Bekehrer; 
             Wieder schimpft er, jedes Wort 
             Ist ein Nachttopf, und kein leerer.
 
             Darauf repliziert der Rabbi 
             Mit zurückgehaltnem Eifer; 
             Wie sein Herz auch überkocht, 
             Doch verschluckt er seinen Geifer.
 
           Er beruft sich auf die Mischna, 
             Kommentare und Traktate; 
            Bringt auch aus dem Tausves-Jontof 
             Viel beweisende Zitate.
 
             Aber welche Blasphemie 
             Mußt er von dem Mönche hören! 
            Dieser sprach: der Tausves-Jontof 
            Möge sich zum Teufel scheren.
 
            »Da hört alles auf, o Gott!« 
            Kreischt der Rabbi jetzt entsetzlich; 
            Und es reißt ihm die Geduld, 
            Rappelköpfig wird er plötzlich.
 
           »Gilt nichts mehr der Tausves-Jontof, 
            Was soll gelten? Zeter! Zeter! 
            Räche, Herr, die Missetat, 
            Strafe, Herr, den Übeltäter!
 
            Denn der Tausves-Jontof, Gott, 
            Das bist du! Und an dem frechen 
            Tausves-Jontof- Leugner mußt du 
            Deines Namens Ehre rächen.
 
            Laß den Abgrund ihn verschlingen, 
            Wie des Korah böse Rotte, 
            Die sich wider dich empört 
            Durch Emeute und Komplotte.
 
            Donnre deinen besten Donner! 
            Strafe, o mein Gott, den Frevel - 
            Hattest du doch zu Sodoma 
            Und Gomorrha Pech und Schwefel!
 
           Treffe, Herr, die Kapuziner, 
           Wie du Pharaon getroffen, 
           Der uns nachgesetzt, als wir 
           Wohlbepackt davongeloffen.
 
           Hunderttausend Ritter folgten 
           Diesem König von Mizrayim, 
           Stahlbepanzert, blanke Schwerter 
           In den schrecklichen Jadayim.
 
          Gott! da hast du ausgestreckt 
           Deine Jad, und samt dem Heere 
           Ward ertränkt, wie junge Katzen, 
           Pharao im Roten Meere.
 
           Treffe, Herr, die Kapuziner, 
           Zeige den infamen Schuften, 
           Daß die Blitze deines Zorns 
           Nicht verrauchten und verpufften.
 
           Deines Sieges Ruhm und Preis 
           Will ich singen dann und sagen, 
           Und dabei, wie Mirjam tat, 
           Tanzen und die Pauke schlagen.«
 
           In die Rede grimmig fiel 
           Jetzt der Mönch dem Zornentflammten: 
          »Mag dich selbst der Herr verderben, 
           Dich Verfluchten und Verdammten! 

           Trotzen kann ich deinen Teufeln, 
           Deinem schmutz'gen Fliegengotte, 
          Luzifer und Beelzebube, 
           Belial und Astarothe.
 
           Trotzen kann ich deinen Geistern, 
           Deinen dunkeln Höllenpossen, 
           Denn in mir ist Jesus Christus, 
           Habe seinen Leib genossen. 

           Christus ist mein Leibgericht, 
          Schmeckt viel besser als Leviathan 
           Mit der weißen Knoblauchsauce, 
           Die vielleicht gekocht der Satan.
 
           Ach! anstatt zu disputieren, 
           Lieber möcht ich schmoren, braten 
          Auf dem wärmsten Scheiterhaufen 
           Dich und deine Kameraden.«
 
           Also tost in Schimpf und Ernst 
           Das Turnei für Gott und Glauben, 
           Doch die Kämpen ganz vergeblich 
           Kreischen, schelten, wüten, schnauben.
 
           Schon zwölf Stunden währt der Kampf, 
           Dem kein End' ist abzuschauen; 
           Müde wird das Publikum, 
           Und es schwitzen stark die Frauen.
 
           Auch der Hof wird ungeduldig, 
           Manche Zofe gähnt ein wenig. 
           Zu der schönen Königin 
           Wendet fragend sich der König:
 
          »Sagt mir, was ist Eure Meinung? 
           Wer hat recht von diesen beiden? 
           Wollt Ihr für den Rabbi Euch 
           Oder für den Mönch entscheiden?«
 
           Doña Blanka schaut ihn an, 
           Und wie sinnend ihre Hände 
           Mit verschränkten Fingern drückt sie 
           An die Stirn und spricht am Ende:
 
           »Welcher recht hat, weiß ich nicht - 
           Doch es will mich schier bedünken, 
           Daß der Rabbi und der Mönch, 
           Daß sie alle beide stinken.« 

Theodor Herzl (1860 – 1904)

Junge Juden 

Wann erscheint mir als gelungen 
Mein Bemüh’n auf dieser Erden? 
Wenn aus armen Judenjungen 
Stolze junge Juden werden! 

Ernst Lissauer (1882 – 1937)

Zweier Völker Last 

O Volk, mein Volk! Welch Volk ist denn nun mein? 
Wie eine Kiepe voll Geschichts-Gestein 
Schleppe ich zweier Völker Last. 
Dem Deutschen Jude, deutsch getarnt, 
Dem Juden deutsch, treulos an Israel – 
Hört ihr die Klapper, welche weithin warnt?
 
Aussätzig von der beiden Völker Fehl! 
Dumpf um mich bläst Jahrtausendwind, 
Ich kauere hoch am wilden Zeitenpaß 
Und kratze mir den grauen Grind 
Der Weltgeschichte, siech von Völkerhaß. 

Ernst Stadler (1883 – 1914)

Judenviertel in London 

Dicht an den Glanz der Plätze fressen sich und wühlen 
Die Winkelgassen, wüst in sich verbissen, 
Wie Narben klaffend in das nackte Fleisch der Häuser eingerissen 
Und angefüllt mit Kehricht, den die schmutzigen Gossen überspülen.
 
Die vollgestopften Läden drängen sich ins Freie. 
Auf langen Tischen staut sich Plunder wirr zusam-men: 
Kattun und Kleider, Fische, Früchte, Fleisch, in ekler Reihe 
Verstapelt und bespritzt mit gelben Naphthaflammen.
 
Gestank von faulem Fleisch und Fischen klebt an Wänden. 
Süßlicher Brodem tränkt die Luft, die leise nachtet. 
Ein altes Weib scharrt Abfall ein mit gierigen Händen 
Ein blinder Bettler plärrt ein Lied, das keiner achtet.
 
Man sitzt vor Türen, drückt sich um die Karren. 
Zerlumpte Kinder kreischen über dürftigem Spiele. 
Ein Grammopquäkt auf, zerbrochne Weiberstimmen knarren, 
Und fern erdröhnt die Stadt im Donner der Automobile

Karl Stelter (1823-1912)

Antisemiten 

Antisemiten sind nur entstanden 
Aus Konkurrenten und Schuldenmachern, 
Die, weil sie keinen Kredit mehr fanden, 
Wurden zu Judenwidersachern. 
Wer nie nach der Decke sich hat gestreckt, 
Der hat  s e i n   Verschulden im  J u d e n   entdeckt. 

Otto Richardt Schmidt-Cabanis (1838-1903)

Die Sonne bleibt. 

Welch´ein Knäuel menschlichen Elends rollt 
Dort auf unsere friedliche Flur heran?! 
Welche Lawine von Elend wälzt sich 
Unseren blühenden Gauen zu ?! 
Weinende Kinder, 
Der sorgenden Mutterhut  
Jach entrissen; 
Schwache Matronen, des stützenden Stabes bar; 
Männer, zu Greisen darniedergedrückt 
Durch die bleierne Wucht der Noth; 
Weiber, das Haar zerrauft 
Und die Brüste zerfleischt, 
Mit den stieren, zährenzerfressenen 
Augen vergeblich 
Nach der Spur ihrer Söhne suchend! 
Sagt, wer seid Ihr, Unselige? 
Redet, welch´ Schreckniß hat Euch betroffen?! 
Hat die brandende Fluth 
Eure Aecker ertränkt? 
Hat der brausende Sturm 
Eure Hütten zerstört? 
Hat des Feuers glutfauchender Odem 
Euer Erbe zu Asche versengt? 
Hat der berstende Leib der Erde 
Gierig verschlungen Euch Gut und Hab´?! –  –  
–  „Wehe, was forschest Du? 
Weh´, warum fragst Du ?  
Nimmer der Elemente Haß 
Kann so grausamen Spruch vollzieh´n: 
B l i n d  zerstören sie, 
B l i n d  vernichten sie 
M i t ihren O p f e r n  s i ch  s e l b st  zugleich! 
S e h e n d e n  Auges vermag nur der M e n s ch 
 So gegen S e i n e s g l e i ch e n  zu wüthen!“ –  –  
– Dann hat des Krieges höllische Geißel 
Also von Haus und Hof Euch vertrieben,  
Hat Euch verjagt aus dem wohnlichen Heim, 
Hat Euch rechtlos und mundtodt gemacht ?! 
Aber wie ist mir? – ich mein, es ruht ja  
Rings in der Scheide das scharfe Schwert; 
Nirgend umher in den Landen loht 
Jenes Dämons furchtbare Fackel,  
Deren Flamme allein 
Fließendes Menschenblut löscht ?! –  –  
– „Nicht hat der Krieg, der Völker Verderben,  
Uns in die Fremde hinausgetrieben,  
Nicht uns´re Hütten ein G e g n e r  zerstört! 
B r ü d e r sind dieses Unheils Erzeuger, 
Sprossen der eigenen Scholle haben 
Uns der bleibenden Stätte beraubt, 
Haben das Kind von der Mutterbrust, 
Haben das Weib vom Gatten gerissen; 
In die Oede, in Hunger und Elend 
Wandern wir auf des Landesvaters,  
Auf des eigenen Herrschers Geheiß!“ –  –  
– Und warum? 
Was habt Ihr verbrochen ?  
Habt Ihr „ihn“, den Gesalbten, geschmäht? 
Habt Ihr das Reich dem Feinde verrathen? 
Habt Ihr verletzt das heil´ge Gesetz? 
Welchen unaussprechlichen Freveln 
Droht solche Sühne – um Gotteswillen?! –  –  
– „Wehe, Du sagst es: um G o t t e s  willen  
Sind wir geworden wie Du uns siehst! 
Weil wir den Einen Gott, den alleinigen, 
Ihn, den Schöpfer von Himmel und Erde, 
U n s e r n  Gott und E u r e n  und  i h r e n, 
Etwas anders als sie bekennen, 
In etwas andern Lauten ihn loben, 
In etwas andrer Form zu ihm beten, 
D a r u m  haben sie  D a s  uns gethan! –  – 
– D a r u m ?  N u r   d a r u m ? 
So wird G o t t  Euch retten, 
Der der Seinen nimmer vergißt! –  – 
– „G o t t  soll uns helfen?! 
Er hat geschaut die Schmach, 
Er hat geduldet die That – 
G o t t  hat uns v e r l a s s e n ! 
Was können wir gegen sein Gebot? 
Uns bleibt ein Weg nur: 
Verzweifeln und sterben!“ –  –  
– Nimmer, Ihr Dulder, sei dies das Ende! 
Auf zu den Wolken hebet den Blick; 
Wie diese dunklen, flücht´gen, zerreißen:  
Schwindet das Unheil, das Menschen uns schaffen; 
Wie vor des Windes Wehen sie weichen, 
Schwindet das Dräuen der  E r d e n g ö t t e r! 
Aber die  S o n n e  bleibt, 
Aber die Sonne strahlt 
Leuchtend herab vom ewigen Himmel; 
Und so strahlt Euch das Auge des Einen, 
Wahren, Ewigen Unerforschlichen! 
Habt Ihr  g e g l a u b t  ihn, so h o f f t  auch auf ihn, 
Der Euch wird  l i e b e n d  gen Kanaan führen! 
G l a u b e,  H o f f n u n g  und L i e b e, die drei  
Boten des mächtigen Herrschers der Welten, 
Sind Euch geblieben in Kummer und Noth! 
Fest auf des G l a u b e n s  Fels 
Wurzle der Hütte Grund, 
Die Ihr auf freier Erde Euch werdet 
Neu erbauen mit neuer Kraft; 
H o f f n u n g,  des hehren, 
Ernsten Bruders mildere Schwester, 
Trockne die Zähren Euch von der Wange; 
Aber die L i e b e,  die stärkste von ihnen, 
Reicht Euch von Herzen die Hand, 
Führt Euch den dornigen Pfad . . . . . . . 
Faßt ihre Rechte; sie stützt Euch, sie trägt Euch; 
W i r   h e l f e n  
A l l e  Euch um der L i e b e  willen! 

Heinrich Heine (1797  – 1856)

Einem Abtrünnigen 

O des heil’gen Jugendmutes! 
O, wie schnell bist du gebändigt! 
Und du hast dich kühlern Blutes 
Mit den lieben Herrn verständigt.
 
Und du bist zu Kreuz gekrochen, 
Zu dem Kreuz, das du verachtest, 
Das du noch vor wenig Wochen 
In den Staub zu treten dachtest!
 
O, das tut das viele Lesen 
Jener Schlegel, Haller, Burke –  
Gestern noch ein Held gewesen, 
Ist man heute schon ein Schurke.      

Ada Christen, (Pseud. für Chrstiane von Breden; 1844 – 1901)

Auf dem alten jüdischen Friedhof zu Prag 

Sinnend stand ich bei dem Grabe 
Rabbi Löws, des jüdischen Weisen, 
Hörte wie im Traum den Führer 
Seinen toten Ahnherrn preisen. 

Und warum, so frug ich staunen, 
All die Juden, groß’ und kleine, 
Auf das Grab mit leisem Murmeln 
Werfen bunte Kieselsteine?
 
Und es wurde mir die Antwort: 
„Um zu ehren, ist geboten, 
Daß wir Blumen streun Lebend’gen, 
Steine auf das Grab den Toten.“
 
Von solch heidnischem Gebrauche 
Sind wir Christen längst gereinigt, 
Wir bekränzen stets die Gräber 
Jener, welche wir gesteinigt. 
  

Adolph Donath (1876 – 1937)

War ein Jude und ein Krüppel,
Und sie peitschten ihn hinaus...
Draußen wüteten die Donner,
Und es sprach der Gott der Rache:

„Sieh, du Schöpfung meiner Hände,
Meine Donner schenke ich dir,
Daß sie deine Feinde schlagen;
Denn dein Herz ist eine Träne!“ - -

Gib mir meine alte Erde!...“ Da zerteilten sich die Wolken,
Alte Sonnen kamen wieder,
Und die weißen Engel sangen
Judas Zukunftsmelodei.

Ernst Stadler (1883 – 1914)

Gratia divinae pietatis adesto savinae de petra dura  
perquam sum facta figura 

(Alte Inschrift am Straßburger Münster)
 
Zuletzt, da alles Werk verrichtet, meinen Gott zu loben, 
Hat meine Hand die beiden Frauenbilder aus dem Stein gehoben. 
Die eine aufgerichtet, frei und unerschrocken – 
Ihr Blick ist Sieg, ihr Schreiten glänzt Frohlocken. 
Zu zeigen, wie sie freudig über allem Erdenmühsal throne, 
Gab ich ihr Kelch und Kreuzesfahne und die Krone. 
Aber meine Seele, Schönheit ferner Kindertage und mein tief verstecktes Leben 
Hab ich der Besiegten, der Verstoßenen gegeben. 
Und was ich in mir trug an Stille, sanfter Trauer und demütigem Verlangen 
Hab ich sehnsüchtig über ihren Kinderleib gehangen: 
Die schlanken Hüften ausgebuchtet, die der lockre Gürtel hält, 
Die Hügel ihrer Brüste zärtlich aus dem Linnen aus-gewellt, 
Ließ ihre Haare über Schultern hin wie einen blon-den Regen fließen, 
Liebkoste ihre Hände, die das alte Buch und den zerknickten Schaft umschließen, 
Gab ihren schlaffen Armen die gebeugte Schwermut gelber Weizenfelder, die in Julisonne schwellen, 
Dem Wandeln ihrer Füße die Musik von Orgeln, die an Sonntagen aus Kirchentüren quellen. 
Die süßen Augen mußten eine Binde tragen, 
Daß rührender durch dünne Seide wehe ihrer Wim-pern Schlagen. 
Und Lieblichkeit der Glieder, die ihr weiches Hemd erfüllt, 
Hab ich mit Demut ganz und gar umhüllt, 
Daß wunderbar in Gottes Brudernähe 
Von Niedrigkeit umglänzt ihr reines Bildnis stehe. 

Alfred Lichtenstein (1889 – 1914)

Der Rauch auf dem Felde 

Lene Levi lief am Abend 
Trippelnd, mit gerafften Röcken, 
Durch die langen, leeren Straßen 
Einer Vorstadt. 

Und sie sprach verweinte, wehe, 
Wirre, wunderliche Worte, 
Die der Wind warf, daß sie knallten 
Wie die Schoten, 

Sich an Bäumen blutig ritzten 
Und verfetzt an Häusern hingen 
Und in diesen tauben Straßen  
Einsam starben. 

Lene Levi lief, bis alle 
Dächer schiefe Mäuler zogen, 
Und die Fenster Fratzen schnitten 
Und die Schatten 

Ganz betrunkne Späße machten –  
Bis die Häuser hilflos wurden 
Und die stumme Stadt vergangen 
War in weiten
 
Feldern, die der Mond beschmierte . . . 
Lenchen nahm aus ihrer Tasche 
Eine Kiste mit Zigarren, 
Zog sich weinend 
Aus und rauchte . . . 

Ernst Lissauer (1882-1937)

"Feindes-Sprache"

„Du, der die Sprache seiner Feinde spricht! 
Du, der mit jedem Laut die Schmach vergibt! 
Du, der die Sprache seiner Feinde liebt! 
Mit jeder Silbe hältst du dir Gericht!“ 

Und ob sie mich auch schmähn auf allen Gassen, 
Ich kann die deutsche Sprache niemals hassen. 
Aus deutscher Sprache ist mein Geist gebaut, 
Die fremde Luft wird deutsch von meinem Laut.
 
Ich bin verbannt, 
Nicht aus dem Wort. 
Es zieht mit mir – 
Mein Land, 
Mein Ort. 

Ludwig Robert (1778-1832; Pseud. für Liepmann Levin; Bruder Rahel Levin-Varnhagens)

Jude und Christ 

Wenn der ein Jud’ ist, der im Mutterleibe 
Verdammt schon ward zu niedrem Sklavenstande, 
Der ohne Rechte lebt im Vaterlande, 
Dem Pöbel, der mit Kot wirft, eine Scheibe, 

Dem gar nichts hilft, was er auch tu’ und treibe, 
Des Leidenskelch doch voll bleibt bis am Rande, 
Verachtungsvoll und schmachvoll bis am Rande – 
Dann bin ich Jud’ und weiß auch, daß ich’s bleibe.
 
Und wenn der Christ ist, der sich streng befleißet, 
Sein Erdenkreuz in Demut zu ertragen, 
Und die zu lieben, die ihn tödlich hassen,
 
Glaubend, daß alles, was sein Herz zerreißet, 
Der Herr, um ihn zu prüfen, zugelassen – 
Dann bin ich Christ! Das darf ich redlich sagen. 

Hugo Zuckermann 1881 – 1915 (einer Kriegsverletzung erlegen)

Die neuen Makkabäer 

Heute darf ich den Genossen  
Makkabäerlieder sagen, 
Weil ich selbst ein Schwert getragen 
Und mein rotes Blut vergossen. 

Heute keine Siegeslieder, 
Heute keine Freudenkerzen – 
Beugt euch mit zerriss’nen Herzen 
Zur entweihten Erde nieder!
 
Noch ist nicht die Zeit vollendet, 
Noch ist nicht das Land gereinigt, 
Noch wird unser Volk gesteinigt, 
Unsre Tempel sind geschändet.
 
Keiner festlich hellen Stuben 
Siebenarmig Kerzenschimmern –  
Über Scherben, Schutt und Trümmern 
Raufen sich zerlumpte Buben.
 
In den weihedunklen Schulen 
Stampfen die Kosakenrosse, 
Nach dem Lied der letzten Posse  
Walzen zwei betrunk’ne Buhlen. 

Unter der Granaten Pochen, 
Die den Friedhof gut getroffen, 
- Alle Gräber gähnen offen –  
Speit die Erde Totenknochen.
 
Darum keine Siegeslieder, 
Darum keine Freudenkerzen –  
Beugt euch mit zerriss’nen Herzen 
Zur entweihten Erde nieder!
 
In die harten Hände pressen 
Sollt ihr fest zwei Erdenbrocken! 
Meine Rechte werde trocken, 
Könnt’ ich deiner je vergessen!
 
Deiner Seufzer, deiner Tränen, 
Deiner Schwären, deiner Schande! 
Judenvolk im Polenlande, 
In dem Rachen der Hyänen!
 
Wer ein gutes Schwert kann schwingen, 
Wer noch kann die Büchse tragen, 
Wer da kann die Trommel schlagen, 
Soll den Arm zum Opfer bringen.
 
Wer die Berge kann bezwingen, 
Wen ein flinkes Roß getragen, 
Wer sich auf den Mast will wagen, 
Soll die Beine uns verdingen.
 
Eure Künste, euer Streben, 
Eure festen Daseinsplätze, 
Eure Häuser, eure Schätze 
Heischen wir und: euer Leben! 

Euer Leben, daß nicht sterbe 
Väterart und Vätererbe. 
Macht den Tempel wieder rein,  
Laßt uns Makkabäer sein! 
 

Theodor Lessing (1872 – 1933; ermordet)

Du bist andre Art 
(„Werbung“) 

Gib mir die Hand und laß mich dein Auge sehn. 
Gingst du allein als Kind, oft im Wald allein? 
Liebst du in Nächten schlaflos am Fenster stehn? 
Schlaflos der Sterne Schein? 

Frau, die ich liebe, kennst du den Hunger gut? 
Kennst du den Hunger und alles das Grämen da? 
Nagt auch an dir der verschütteten Träume Glut? 
Stirbst du auf Golgatha? 

Frau, die ich liebe, sprich von der Winterfrist, 
Wo ersteht all das zuckende Jugendweh, 
Das im Lächeln – ihnen – begraben ist, 
Unser totes Kind im Schnee. 

Kennst du es nicht, wirst du nimmer mein, 
Denn du bist andre Art, und die Stunde kommt, 
Wo du verachten wirst, was dir nicht frommt ... 
Und ich werd’ schweigen und lächeln und wieder einsam sein.   

Stefan George (1868-1933)

Germanen und Juden 

Ihr Äußerste von windumsauster Klippe 
Und schneeiger Brache! Ihr von glühender Wüste! 
Stammort des Gott-Gespenstes – gleich Entfernte 
Von heitrem Meer und Binnen, wo sich Leben 
Zu Ende lebt in Welt von Gott und Bild! . . .  
Blond oder schwarz demselben Schoß entsprungne,  
Verkannte Brüder, suchend euch und hassend, 
Ihr immer schweifend und drum nie erfüllt! 

Mathias Acher (Nathan Birnbaum; 1864-1937)

Ihr und ich 

Ihr habt mir das Schwert aus den Händen gewunden, 
Die Krone gerissen vom Königshaupt, 
Ihr habt mir den Rücken krumm gebunden, 
Den kecken, den siegenden Blick geraubt! 

Ihr habt mich aus einsamer Höhe gestoßen, 
In wimmelnde Tiefe hinabgedrängt, 
Ihr habt meinen Stolz, den reinen und großen, 
In Schmutz und Schlamm und Sumpf ertränkt! 

Ihr habt mich gehalten in dumpfen Verließen 
Und habt mir gestohlen die jauchzende Welt, 
Ihr habt mich betrogen ums Glückgenießen 
Und habt mir den Sinn meines Lebens entstellt!
 
So will ich euch fluchen und will euch hassen! 
Doch nein! – Ich entkam ja der Schmach und Not; 
Wohl könnt ihr´s in eurem Dünkel nicht fassen, 
Wie blutend Leben weiter loht: 

Aus meinem Herzen hab’ ich gesogen 
Viel sonnige Fäden so fein und fest, 
Und hab’ mir daraus zusammengewoben 
Ein neues, lauschiges Weltennest. 

Aus meinem Geiste hab’ ich geschmiedet 
Mir hurtig Krone und Schwert zugleich, 
Nun rag’ ich aufrecht und glanzumfriedet 
In meinem jungen Gedankenreich.
 
Und hole aus tiefen Seelenverstecken 
Mein Wollen, den zeugenden Sturm, hervor,  
Und lass’ ihn wirbeln und lass’ ihn wecken 
Aus Ahnen und Denken die Taten empor! ... 

So will ich euch segnen und will euch lieben,  
Soviel und so schwer ihr gesündigt an mir! 
Denn ich bin das siegende Opfer geblieben 
Und reueverfallene Henker ihr! 

Ludwig Fulda (1862-1939 Suizid)

Sagt Einer heut auf hohem Rednerpult 
Mit etwas Zungenkunst und Spiegelfechten: 
„Die Müllerknechte sind an Allem schuld, 
An allem Schädlichen und allem Schlechten“, 
Und wiederholt im Lande weit und breit 
Den gleichen Satz mit kühler Überlegung, 
Dann haben wir äußerst kurzer Zeit 
Die große Anti-Müllerknecht-Bewegung. 

Max Nordau (Pseud. für Max Simon Südfeld), 1849-1923 

Dem Antisemiten 

Wie den köstlichsten Wein zu Essigsäure 
Vergiftet das faulige, kahmige Faß, 
So die christliche Liebe verderbet eure 
Modrige Seele zu christlichem Haß.
 
Des Heilands wollen nun wir gedenken, 
Da ihr ihn vergesst in heidnischer Wuth, 
Und Mitleid auch und Verzeihung schenken 
Sprechend: Ihr wisst nicht, was ihr thut!“ 

Günther Walling (1839-1896; Karl Fr. Ulrici)

Den Brüdern in Christo (1893) 

Sie haben unsre Schlachten mitgeschlagen, 
Sie haben unsre Siege miterrungen, 
Und dennoch schmäht Ihr sie mit Lästerzungen; 
Weshalb? – Weil sie den Namen Juden tragen. 

Sie haben mitgeweint bei unserm Klagen, 
Sie haben laut ihr Freudenlied gesungen, 
Als wir errangen Ruhm und Huldigungen; 
Deutsch, wie ihr Wort, war ihres Herzens Schlagen. 

Und nun, da Deutschland groß und neu geeinigt, 
Ist Euer Dank und Euer christlich Lieben, 
Daß laut Ihr ruft: „Die Juden kreuzigt, steinigt.“
 
Ein Brandmahl habt in eitler Sinnumnachtung 
Ihr auf die Heuchlerstirn Euch selbst geschrieben; 
Nur ein Gefühl bleibt mir für Euch: Verachtung! 

E. Henle (Pseud. für Elise Levi, geb. Henle, 1832-1892) 

Was ich davon halte? 

Der Antisemitismus ist –  
Sie fragen, was  i ch  davon halte – 
Ein Rückschritt, der nach Jahrhunderten mißt, 
Die Rohheit wecket, die alte. 
Er ist eine Schande für unsre Zeit, 
Ein Auswuchs und häßliches Mal; 
Ich sehe ihn wachsen und seh´ es mit Leid, 
Daß möglich ein solcher Skandal. 
Dort, wo er begonnen, dort müsse er enden,  
Ich klage die Obersten an, 
Sie hatten die Macht, das Unheil zu wenden, 
Und  s i e   gaben frei ihm die Bahn. 
Nun wälzt sich, verheerend der gräßliche Brand, 
Geschürt von dunkelen Männern, 
Durch Deutschlands Gauen von Land zu Land, 
Geschützt von heimlichen Gönnern. 
Und so wird es bleiben noch endlose Zeit 
Trotz eifrigen, mühsamen Strebens, 
Und nimmer wird enden des Judenvolks Leid, 
Denn  h i e r   kämpfen Götter vergebens. 

Nikolaus Lenau (Pseud. für Niembsch Edler von Strehlenau, 1802-1850)

Der arme Jude 

Armer Jude, der du wandeln 
Mußt von Dorf zu Dorf hausierend, 
Schlecht genährt und bitter frierend, 
Allwärts rufend: „Nichts zu handeln?!“ 
Holt die Seuche Mann und Frauen, 
Ziehst du nach auf ihrer Fährte, 
Und die Kleider, die sie leerte, 
Schleppst du fort, dir darf nicht grauen. 
Auf dem Baume krächzt der Rabe, 
Hunde zerren dich am Rocke, 
Schneegestöber Flock an Flocke.  
Fleißig wanderst du am Stabe. 
Ein Jerusalem, papieren, 
Bauen deine Stammgenossen, 
Doch für dich ist es verschlossen, 
Wandern mußt du, darben, frieren.  
Jene haben’s hoch getrieben, 
Du verschacherst alte Kleider; 
Aber alle seid ihr leider 
Ein geknicktes Volk geblieben.